Islam, europäische Öffentlichkeit und zivilgesellschaftliches
Bewusstsein Nilüfer Göle
Die Rolle der Religion bei der Integration Europas stellt sich
mir als Islamwissenschaftlerin mit türkischem Hintergrund anders dar als den
meisten anderen Beiträgern zu diesem Thema. Erstens und vor allem ist für uns
die gesellschaftliche Rolle der Religion im allgemeinen und des Islam im
besonderen gewöhnlich negativ besetzt und erscheint als Integrationshemmnis.
Zweitens wird eine Person türkischer Herkunft das Problem auf ganz spezifische
Weise angehen. Wie Sie wissen, waren die türkischen Modernisten nach der
Gründung der türkischen Republik im Jahre 1923 kompromisslos säkularistisch und
sind es bis heute geblieben. Für jene Türken, die sich den Werten der
europäischen Moderne verpflichtet fühlen, bedeuten deshalb die Vereinigung
Europas und die Bildung einer europäischen Identität die Vollendung eines
Säkularisierungsprojekts. Aus diesem besonderen historischen und kulturellen
Blickwinkel wirkt es verblüffend, wenn die Religion als integrativer Faktor bei
der Bildung einer Gemeinschaft europäischer Bürger in Betracht gezogen wird.
Andererseits ist es aber eine interessante Herausforderung, die Rolle der
Religion bei der Schaffung eines europäischen Bewusstseins nicht nur aus der
vorherrschenden Perspektive der christlichen Tradition, sondern auch im Blick
auf die Präsenz des Islam neu zu überdenken.
Religion und Integration
Die Rolle der Religion in der Integration Europas ist ein
Thema, das uns dazu einlädt, das Phänomen Religion als eine positive Kraft,
einen positiven Wert neu ins Auge zu fassen – Danièle Hervieu-Léger spricht in
diesem Zusammenhang von Religion als "Zivilisationsarbeit". Aus islamischer
Sicht erscheint dies ein sehr viel schwierigeres Unterfangen, nicht nur, weil
heute der Islam von muslimischen Kräften als Mittel zum politischen Widerstand
gebraucht (und missbraucht) wird, sondern auch weil viele Europäer im Islam das
fremde "Andere" sehen, auf das sie mit Abschottung und Ausgrenzung reagieren.
Die Präsenz, die der Islam durch die Migration aus muslimischen in europäische
Länder gewonnen hat, stellt die westlichen Demokratien vor neue Probleme der
Abgrenzung und der Toleranz. Die Tatsache, dass sich die Türkei um die
Mitgliedschaft in der Europäischen Union bewirbt, hat in vielen europäischen
Ländern öffentliche Debatten ausgelöst und deutlich werden lassen, welch
wichtige Rolle der Islam dabei spielt. Vielleicht war dies das erste Mal, dass
die Identität der europäischen Union und die Frage, was es bedeutet, Europäerin
oder Europäer zu sein, Diskussionsgegenstand nicht nur für Politiker und
Technokraten, sondern auch für die breite Öffentlichkeit wurde. Die Frage, ob
die europäische Einheit über das gemeinsame Erbe der christlichen Religion und
der westlichen Kultur definiert werden soll oder ob man sie besser auf
politische Wertvorstellungen, Multikulturalismus und demokratische Integration
gründet, spaltete die öffentliche Meinung in Europa. Es war interessant zu
beobachten, wie sich beim türkischen Versuch einer Annäherung an Europa in der
europäischen Öffentlichkeit Besorgnis hinsichtlich des Islam artikulierte und
wie auf Seiten vieler Politiker, Intellektueller und Privatpersonen die
Forderung laut wurde, die Grenzen Europas präziser zu definieren.[1]
Der Titel des Beitrags von Paul Scheffer, "Eine offene Gesellschaft braucht
Grenzen"[2], dürfte diesen unausgesprochenen Wunsch und die Ängste, die – in
diesem Fall in den Niederlanden – durch die Migration wachgerufen werden, gut
zum Ausdruck bringen. Angesichts der Tatsache, dass die Frage der Grenzen nicht
bloß eine Frage der geographischen Zugehörigkeit, sondern auch der kulturellen
und zivilisatorischen Unterschiede ist, erweist sich der Umgang der europäischen
Staaten mit der Präsenz des Islams als entscheidend für die Schaffung eines
politischen Wertesystems für Europa.
Wenn wir den Islam einen Augenblick beiseite lassen und uns fragen, welche Rolle
die Religion in der heutigen modernen Welt spielt und ob sie gemeinsame Werte
für die Definition einer europäischen Staatsbürgerschaft liefern kann, dann
sehen wir uns mit dem Problem konfrontiert, dass sich Religion nicht mehr durch
die Institutionen fassen lässt, die sie repräsentieren. Wie Marcel Gauchet und
Charles Taylor geltend machen, sind wir heute Zeugen eines Prozesses der
Entinstitutionalisierung des Religiösen. Religion in der modernen Welt ist zu
einer viel persönlicheren und spirituelleren Erfahrung geworden. Das bedeutet
indes nicht, dass sie auf die Privatsphäre beschränkt wäre. Menschen können die
Religion persönlich erleben und gleichzeitig einem religiösen Kollektiv oder
einer Bewegung angehören. Charles Taylor erklärt die soziale Entwurzelung zur
Voraussetzung einer anderen Art von gesellschaftlicher Imagination, nämlich
jener "typisch modernen, 'horizontalen' Formen der sozialen Vorstellung, in
denen die Menschen sich selbst und andere in großer Zahl als gleichzeitig
exisitierend und handelnd begreifen"[3]. Im modernen Zeitalter ist religiöse
Erfahrung Teil eines "expressiven Individualismus" geworden; das heißt, die
Menschen lehnen Muster, die von außen – von der Gesellschaft, der vorangehenden
Generation oder einer religiösen Autorität – oktroyiert werden, ab und legen
Wert darauf, ihren eigenen Weg zu gehen.[4] Taylor erinnert aber zu Recht daran,
dass die starke individualistische Komponente der religiösen Erfahrung unserer
Zeit nicht unbedingt Individuierung bedeutet: Viele Menschen treten im Gegenteil
mächtigen religiösen Gemeinschaften bei.[5]
Die neuen Muslime
Welche Religion meinen wir eigentlich im Zusammenhang mit dem
Projekt Europa? Meistens ist hier eher vom Erbe des Christentums als von den
gegenwärtigen religiösen Praktiken und Wertvorstellungen die Rede. Meine These
ist, dass der Prozess der Entinstitutionalisierung religiöser Erfahrung auch den
Islam ergriffen hat. Vormals eine bindende Kraft für lokale, konfessionelle oder
nationalstaatliche Gemeinschaften, verwandelt sich der Islam heute in ein
imaginäres Band zwischen sozial entwurzelten Muslimen. In dieser Hinsicht weist
der heutige Islamismus Züge auf, die ihn mit religiösen Erfahrungsformen der
Moderne verbinden: Auch er repräsentiert Formen einer sozial entwurzelten
Religiosität, die ihn zu einer Sache der persönlichen Entscheidung werden
lassen. Statt sich von überkommenen religiösen Strukturen, Autoritäten oder
nationalen bzw. konfessionellen Abhängigkeiten abzuleiten, funktioniert die
islamische Erfahrung heute als Instrument einer horizontalen imaginären
Vergemeinschaftung, die zahlreiche, in den verschiedensten Zusammenhängen
lebende Muslime als gemeinsam und im Gleichtakt Handelnde zusammenbringt. Im
Islamismus geht es um die Erzeugung, Entfaltung und Ausbreitung dieser
horizontalen imaginierten Gemeinschaft, ohne Rücksicht auf die historischen
Unterschiede zwischen dem spirituellen Sufismus und dem kanonisierten Islam der
scharia, zwischen schiitischem und sunnitischem Islam, zwischen dem
konservativen Saudi-Arabien und dem revolutionären Iran.
Hinzu kommt, dass die derzeitige Politisierung des Islam die
Autorität der religiösen Führungsschicht (Ulama) untergraben hat. Das hat
einerseits zur Folge, dass die Interpretation religiöser Texte nun breiten
Bevölkerungsschichten offen steht, zum Beispiel militanten Politikern,
islamischen Intellektuellen oder auch Frauen.
Andererseits hat das freilich auch eine Vulgarisierung
religiöser Quellen und Lehren zur Folge, die im Interesse der politischen
Ideologie des Islamismus nutzbar gemacht bzw. missbraucht und aus dem
Zusammenhang gerissen werden. Der radikale Islamismus ist deshalb weit entfernt
davon, die traditionellen religiösen Deutungen zu respektieren; sein Diskurs ist
simplifizierend, ahistorisch und dem Koran entfremdet. Der Islamismus
funktioniert als eine Art von ideologischem Amalgam aus verschiedenen
Islamschulen, Nationalkulturen und Volksbräuchen. Laien, die ohne die
institutionelle Ermächtigung durch religiöse Schulen die Sprache des Islam
verwenden, leiten das Recht dazu aus ihrem Aktivismus ab. Aktivismus und
Terrorismus bieten oder, besser gesagt, dekretieren eine neue
Legitimationsquelle für die Verwendung des islamischen Idioms. Wer entscheidet,
was im Islam erlaubt ist und was nicht? Wer ist befugt, religiöse Texte
auszulegen? Wer kann eine fatwa aussprechen und einen dschihad verkünden? In dem
Maße, wie der Islam in den Händen des Islamismus im besonderen und unter dem
Eindruck der modernen säkularisierten Welt im allgemeinen seine Bindungen an die
Tradition verliert, erweisen sich Fragen wie diese als drängende Probleme.
Umgestaltet, neu gedeutet und ins öffentliche Leben hineingetragen wird der
Islam heute nicht durch religiöse Institutionen, sondern durch politische
Akteure und kulturelle Bewegungen. Gleichzeitig nimmt die Präsenz des Islam im
öffentlichen Leben und seine Bedeutung für die Gestaltung der gesellschaftlichen
Vorstellungen und der alltäglichen Verhaltensweisen der Muslime zu. Wir
beobachten, wie sich Einzelpersonen und Kollektive den Islam aneignen. Auch wenn
dies nicht auf institutioneller bzw. politischer Ebene stattfindet, gewinnt in
Europa und andernorts der Islam zunehmende öffentliche Sichtbarkeit und erhebt
wachsenden Anspruch darauf.
Der Islam dringt in neue Lebensräume vor, während wir immer noch dazu neigen,
den Islam als regionales Phänomen zu betrachten und ihm jeden Anspruch auf
Universalismus abzusprechen. Man braucht nur empirisch die Laufbahnen
muslimischer Akteure von heute zu verfolgen, um zu sehen, wie sie aus den
ländlichen Regionen in die Ballungszentren, aus den Randzonen ins politische
Zentrum und natürlich auch durch Migration in die großen Städte des Westens
vordringen. Wir beschreiben diese Bewegung oft als negativen Prozess und legen
den Akzent auf die soziale Entwurzelung der Betreffenden, die sie einer
entfremdeten Existenz und dem Terrorismus in die Arme treibe. Wie wir indes aus
der klassischen soziologischen Literatur wissen, stellt soziale Mobilität
zugleich eine Voraussetzung für die Ausbildung einer modernen Identität dar.
Welche Auswirkungen hat das auf die Religion? Die soziale Mobilität entfremdet
die betroffenen Muslime von ihren sozialen Herkunftsmilieus und Heimatgemeinden.
Das gilt nicht nur für die muslimischen Migranten in Europa, sondern auch für
soziale Gruppen, die in letzter Zeit in muslimischen Ländern vom Land in die
Städte gewandert sind. Sie machen eine neue Art von religiöser Erfahrung, die
ihnen nicht mehr durch die Gemeinde oder durch geistliche und staatliche
Institutionen vermittelt wird, sondern bei der es sich um eine imaginäre
Vergemeinschaftung handelt, die ihr Zugehörigkeitsgefühl zum Islam neu bestimmt.
Ihr Islam ist nicht mehr an einen Ort oder eine Tradition gebunden wie der
schiitische oder der sunnitische Islam. Was wir beobachten, ist das Aufkommen
einer Art von synkretistischem Islam.
Ich halte es daher für wichtig festzuhalten, dass Muslim zu sein und Islamist zu
sein nicht dasselbe ist. Was wir heute beobachten, ist der Wechsel von einer
muslimischen zu einer islamistischen Identität. Das neue Phänomen, dem wir im
Islamismus begegnen, lässt sich nicht auf konfessionelle oder nationale
Richtungen des Islam zurückführen. Was wir in den heutigen Formen des
politischen Islam vielmehr beobachten, ist die affirmative Re-Konstruktion
islamischer Identität in Gestalt eines imaginierten Kollektivs. Die Präsentation
des religiösen Selbst wird aus der Privatsphäre in den öffentlichen Raum
überführt und gegen die westlichen, säkularen Wertvorstellungen der Moderne
geltend gemacht. Eben jene Muslime, die in radikalisierter Form auf ihrer
religiösen und kulturellen Identität bestehen, sind es, die ihre beschränkten
Herkunftsmilieus hinter sich lassen und in den neuen Erfahrungshorizont des
öffentlichen, urbanen, europäischen Lebens überwechseln.
Von der Stigmatisierung zur Selbstdarstellung
Hinter dem Phänomen Islamismus verbirgt sich ein
soziologisches Paradox. Nicht die Ferne zu modernen Formen der Lebensgestaltung,
Bildung und Politik, sondern im Gegenteil die Vertrautheit mit diesen Formen und
die Nähe zu ihnen löst die Rückwendung auf eine identitätsstiftende Religion und
die dazugehörigen politischen Ausdrucksformen aus. In den meisten Fällen ist der
Radikalismus Kennzeichen jener Gruppen, die dank Mobilität und Ortswechsel mit
den säkularisierten, westlichen Formen des politischen Denkens und städtischen
Lebens vertraut geworden sind. In öffentlichen Räumen wie Schulen, Vereinen,
großstädtischen Milieus und Medien eignen sich die muslimischen Akteure moderne
Techniken der Selbstdarstellung und Kommunikation an. Dennoch verharren sie in
Opposition zu den jeweiligen nationalen und säkularen Spielregeln dieser
öffentlichen Räume und pochen offen auf ihre religiöse Identität und
Lebensführung.
Der Islam bietet einen Rahmen für die Selbstgestaltung des
Einzelnen und die kollektive Orientierung der Bewegung, in dem von Charles
Taylor intendierten Sinn einer Reihe von Merkmalen, die das Gefühl vermitteln,
einer besseren, höheren Form des Lebens teilhaftig zu sein.[6] Der Islam dient
als Orientierungsquelle und Unterscheidungskriterium im Blick auf die
Vorstellung und Gewinnung einer höheren Form von Leben. Damit der Islam diese
Funktion aber erfüllen kann, muss er nach Überzeugung der Radikalen aus seiner
traditionell unterwürfigen, passiven und fügsamen Haltung gegenüber den Mächten
der Moderne befreit werden. Die Religion eröffnet den Muslimen einen
unabhängigen, alternativen Raum für ihr Bemühen, sich in kritischer
Auseinandersetzung mit der Moderne selbst zu bestimmen. Politisierung der
Religion und personalisierte Religiosität gehen Hand in Hand, wobei Bedingung
der Möglichkeit dieses Prozesses die Schwächung der Bindungen an den
traditionellen Kontext, an die Autorität der Geistlichen und an die kanonischen
Deutungen ist.
Dank der Sichtbarkeit der religiösen Symbole und Verrichtungen ist die
Öffentlichkeit gut informiert über den derzeit vor sich gehenden tiefgreifenden
Wandel der muslimische Identität von verborgener Praxis zu öffentlichem und
kollektivem Bekenntnis. Durch das Tragen des Schleiers bzw. die Barttracht,
durch den Anspruch auf das Recht, am Arbeitsplatz ihre Gebete zu sprechen, durch
die Einhaltung bestimmter Speisegebote usw. werden die Muslime als solche
erkennbar und legen ein öffentliches Bekenntnis zu ihrem Glauben ab. Sie geben
zugleich zu verstehen, dass sie glaubenseifriger und gewissenhafter in der
Befolgung religiöser Regeln sind als andere, die ihre Religiosität auf die
Privatsphäre beschränken.
Schleier oder Kopftuch werden gewöhnlich als Indiz für die Unterdrückung der
Frau im Islam betrachtet. Nun wird dieses Symbol weiblicher Fügsamkeit und
Einschließung in die häusliche Sphäre heute auch von muslimischen Frauen
übernommen, die gar nicht mehr auf eine traditionelle Rolle und das Leben in der
Familie beschränkt sind. Diese Frauen haben Zugang zu höherer Bildung, zum
großstädtischen Leben und zu öffentlichen Tätigkeiten. Der Schleier ist hier
gleichermaßen persönlicher und kollektiver Ausdruck islamischer Religiosität. Er
wird als persönliches Symbol getragen; gleichzeitig aber schöpfen die Frauen aus
ihm die Kraft des Kollektivs und der horizontalen Bindung an all jene, die sich
als Muslime, genauer gesagt, Islamisten verstehen. Der Schleier verwandelt sich
vom Attribut öffentlicher Diskriminierung in das Wahrzeichen eines neuen
Selbstbewusstseins. Indem der Schleier Einzug in moderne Lebenssphären hält,
verändert er seine Bedeutung. Aus einem Stigma, einem Zeichen der
Rückständigkeit und Ungleichheit der Geschlechter, transformiert er sich in ein
positives Identifikationsinstrument nach dem Muster "black is beautiful" und
wird Ausdruck des Anspruchs auf ein mit der muslimischen Identität verknüpftes
#höheres Selbstsein. Durch die kollektive Bekräftigung der islamischen Identität
verwandelt sich das Gefühl der Deklassierung und Demütigung in ein Streben nach
Ansehen und Macht (das beste Beispiel hierfür bietet die Revolution im Iran).
Das Tragen des Schleiers bzw. des Kopftuchs steht also nicht in Kontinuität mit
herrschenden muslimischen Kulturbräuchen und etablierten religiösen
Konventionen. Einerseits widerstreitet es zwar den liberalen Vorstellungen von
der Rolle der Geschlechter, andererseits aber sprengt es auch den Rahmen der
traditionellen muslimischen Wertvorstellungen. Am Beispiel des Kopftuchs, das
junge muslimische Frauen in Europa tragen, lässt sich der Wandel im Symbolgehalt
gut deutlich machen. Junge Mädchen aus Zuwandererkreisen, die in französischen
und deutschen Schulen das islamische Kopftuch tragen, stehen in vieler Hinsicht
(in ihrer Orientierung an der Jugendkultur, ihrem Modebewusstsein und ihrer
Sprache) ihren Klassenkameraden näher als ihren familiengebundenen ungebildeten
Müttern aus der ersten Zuwanderergeneration. Die jungen Mädchen, die das
Kopftuch selbstbewusst im öffentlichen Raum tragen und ihren Bedürfnissen
anpassen, verändern zugleich seinen Symbolgehalt und das Bild der muslimischen
Frau. Diese neuen Erscheinungsformen europäischer Muslime weisen eine doppelte
Zugehörigkeit auf, verfügen über ein doppeltes kulturelles Kapital. Einerseits
definieren sich diese Frauen durch ihre Religiosität, andererseits aber haben
sie Techniken der Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit erlernt und
universales, säkulares Wissen erworben. Dank dieses zweifachen kulturellen
Kapitals sind sie imstande, zwischen unterschiedlichen Aktivitäten und Sphären
wie etwa ihrem Zuhause, ihrer Schulklasse, Jugendverbänden und den
großstädtischen Freizeiteinrichtungen hin und her zu wechseln.
Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?
Fassen wir zusammen. Ich habe erstens skizziert, auf welche
Weise der Islam zum identitätsstiftenden Bezugspunkt für jene neuen Muslime
wird, die mit einem doppelten kulturellen Kapital ausgestattet sind, in dem sich
Säkulares und Religiöses miteinander verbinden. Zweitens habe ich versucht, die
Perspektive unserer Analyse zu verlagern von persönlichen und
gruppenspezifischen Überzeugungen und Wertvorstellungen hin zu der Vorstellung
eines gemeinsamen Raums, einer öffentlichen Sphäre. Die Präsenz des Islam in der
Öffentlichkeit stellt daher die strenge Scheidung zwischen der Privatsphäre als
Ort der Religion und der öffentlichen Sphäre als säkularisiertem Raum in Frage.
Die Religion wird ins öffentliche Leben hineingetragen, ein Vorgang, durch den
es zu einer Vermischung von profaner und sakraler Sphäre kommt. Die
Verhaltensregeln, die im öffentlichen Raum gelten, werden strittig. Schulen,
Universitäten, Betriebe, das Parlament, aber auch Parks, Friedhöfe und
Badestrände werden zu Orten möglicher Konflikte, wenn Muslime ihre im Einklang
mit den religiösen Geboten des Islam stehenden Verhaltensregeln einbringen.
Das politische Problem, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen, ist die Frage
der öffentlichen Sichtbarkeit der Religion. Der öffentliche Raum ist Wandlungen
unterworfen, wir dürfen in der Öffentlichkeit keine ein für allemal
feststehende, unwandelbare Sphäre mehr sehen. Die Einbeziehung neuer sozialer
Gruppen in diese Sphäre macht eine Neubestimmung ihrer Grenzen und normativen
Werte nötig. Die Neuhinzukommenden lassen die Beschränkungen deutlich werden,
denen die Öffentlichkeit in dem ihr von der Gesellschaft und ihren Gesetzgebern
jeweils verliehenen Zuschnitt unterliegt. Die "Kopftuchdebatte" in Frankreich
zum Beispiel hat eine breite öffentliche Diskussion über das Schulsystem und die
religiöse Neutralität des Staates ("laicité") provoziert, die als französische
Besonderheit betrachtet wird. Die Forderung, dass alle religiösen Symbole aus
den Schulen verbannt bleiben, stützt sich auf das historische Erbe der laicité
und das Prinzip der konfessionellen Neutralität staatlicher
Bildungseinrichtungen.
Das staatliche Vorhaben, einen Rat der Muslime in Frankreich zu schaffen,[7]
sorgt allerdings bereits für eine Veränderung der Beziehungen zwischen dem
französischen Staat und dem Islam. Zum einen bedeutet die Schaffung einer für
den Islam zuständigen religiösen Organisation die öffentliche Anerkennung der
islamischen Präsenz in Frankreich, sprich, die politische Anerkennung des Islam
als eines vom Problem der Zuwanderung unabhängigen Faktums. Zum anderen bedeutet
eine solche Organisation aber auch, dass der Religion in der öffentlichen Sphäre
ein Platz eingeräumt wird, und dies sogar dank einer vom Staat ausgehenden
Initiative. Die säkularistische Konzeption der öffentlichen Sphäre und ihre
Abgrenzung sind in der französischen Öffentlichkeit zum Gegenstand von
Kontroversen geworden und unterliegen im Hinblick auf die mit der Integration
muslimischer Zuwanderer verknüpften Probleme einem radikalen Wandel. Allerdings
bewegt sich die Diskussion im nationalen Rahmen, und der Akzent wird auf den
französischen Exzeptionalismus gelegt, statt dass man sich um eine
zukunftsorientierte europäische Perspektive bemüht. Die gegenwärtigen heftigen
Debatten in anderen europäischen Ländern zeigen, dass es sich um ein
allgemeineres Problem handelt.
Im Blick auf Europa aber lautet die Frage: Sollen wir versuchen, das Problem
durch eine Art "didaktische Demokratie" zu lösen, durch eine Art von
gesetzgeberischer Erziehung oder autoritärer Einflussnahme, etwa in Gestalt
eines gesetzlichen Kopftuchverbots? Das erinnert an den türkischen Säkularismus,
der sich historisch am französischen laicité-Konzept orientierte und dessen
Formen einer staatlichen Kontrolle der Religion sich heute ironischerweise
umgekehrt den Europäern als Modell anbieten. Oder lassen sich auf dem Boden der
Demokratie auf andere Weise neue Formen der Gemeinsamkeit stiften? Der Versuch,
Gemeinsamkeit neu zu bestimmen, setzt voraus, dass wir über das Problem einer
europäischen Öffentlichkeit nachdenken. Bislang wurde der öffentliche Raum durch
den jeweiligen Nationalstaat und die institutionalisierten Religionen
konstituiert. Staatliche Institutionen und Kirchen haben Grenzen gezogen, die
Europa jetzt zu überschreiten sucht. Den hergebrachten öffentlichen Raum setzen
wir freilich immer noch als Gegebenheit voraus. Können wir ihn aufbrechen?
Können wir dieses Öffentlichsein, diese Gemeinsamkeit in eine europäische
Dimension überführen? Gesetzgebung allein genügt da nicht; was nottut ist ein
Raum gemeinsamer Wertvorstellungen. Eine europäische Öffentlichkeit und ein
europäisch gesinntes Bewusstsein seiner Bürger könnten uns helfen, die
nationalen Beschränkungen und konfligierenden Bestimmungen der Kulturen hinter
uns zu lassen und uns auf die Lebenserfahrungen und zwischenmenschlichen
Beziehungen der alltäglichen Wirklichkeit zu konzentrieren. Was spricht gegen
eine europäische Öffentlichkeit, die den moralischen und praktischen Rahmen für
die Entwicklung eines gemeinsamen Bürgersinns abgibt, der sich gleichermaßen aus
einem liberalen Pluralismus und der Pluralität religiöser Erfahrungen speist?
Dieser Artikel ist im Zusammenhang einer unabhängigen
Reflexionsgruppe entstanden, die vom Präsidenten der Europäischen Kommission,
Romano Prodi, initiiert wurde und im Rahmen eines Forschungsschwerpunkts des
Instituts für die Wissenschaften vom Menschen, Wien, die langfristigen geistigen
und kulturellen Perspektiven des erweiterten Europa untersucht. Mehr Information
unter www.iwm.at/r-reflec.htm.
[1] Vgl. die Presseartikel, die während des Kopenhagener
Gipfels im Dezember 2002 in Deutschland, Frankreich und der Türkei erschienen;
siehe auch im Internet die Webseite www.ataturquie.asso.fr.
[2] Erschienen in: Transit 25 (2003), S. 172-188.
[3] Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M.
2002, S. 75. Vgl. auch "Religion heute. Der Ort der Religion in der modernen
Gesellschaft", in: Transit 19 (2000), S. 84-104.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 98.
[6] Charles Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt a.M.1994.
[7] Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy konnte die rivalisierenden
muslimischen Organisationen zur Schaffung eines Rats der Muslime bewegen (CFCM),
dessen Mitglieder am 13. April 2003 erstmals gewählt wurden. Der Große
Sanhedrin, der 1806 von Napoleon einberufene jüdische Rat, gilt als
Musterbeispiel dafür, wie der französische Staat sein Verhältnis zu anderen
großen Religionen regelt. Der muslimische Repräsentativrat stellt die erste
Körperschaft dar, die befugt ist, im Namen der fünf Millionen Mitglieder
umfassenden muslimischen Gemeinde in Frankreich zu sprechen. Ziel des Projekts
ist die Entwicklung eines landeseigenen, liberalen Islam. |